Nissan Micra 350SR: Verrücktes Einzelstück mit V6-Power
Weißer Rauch nimmt uns die Sicht. Jedoch nicht, weil das englische Wetter seinem Namen alle Ehre macht, sondern weil die Karosserie des Power-Micra die Reifenflanken der breiten hinteren Puschen abhobelt und der beißende Qualm über die vielen Kühlungsöffnungen in den Innenraum dringt. Der Speed ist atemberaubend, und die brutale Querbeschleunigung drückt uns tief in die engen Schalensitze. Hinter unseren Rücken kreischen 310 PS (228 kW) eines 3,5 l großen V6-Zylinders. Die Fahrt im Nissan Micra 350SR gleicht dem viel zitierten Ritt auf der Kanonenkugel.
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Der Nissan Juke Hybrid (2022) im Fahrbericht (Video):
Fahrbericht von 2006: 3,5-l-V6 im Nissan Micra 350SR
Tatsächlich hat dieser Nissan Micra nur wenig mit dem knuffigen, kulleräugigen Kleinwagen gemeinsam, der ihm als Basis dient. Die spinnen, die Brit:innen, denkt man, wenn man vor dem Micra 350SR steht. Denn Nissan England ließ den Super-Micra bauen, bei dem Front- gegen Heckantrieb getauscht wurde – und das war wirklich keine leichte Übung. Angefangen hat alles auf dem Automobil Salon in Genf 2003. Das dort ausgestellte Concept Car eines supersportlichen Micra fand so viel Zuspruch, dass man sich entschloss, ihn auf die Straße zu bringen. Ray Mallock Limited (RML), die bereits das R90C Le Mans Projekt der Japaner:innen realisierten und die Nissan-Erfolge in der britischen Tourenwagenmeisterschaft verantworten, bekam von Nissan den Auftrag für die Umsetzung des Projekts.
Der anfänglich ins Heck gequetschte Zweiliter-Vierzylinder brachte zwar mit 265 PS (195 kW) schon satt Leistung auf die Straße, aber damit waren die spleenigen englischen Nissan-Manager:innen längst nicht befriedigt. Etwas mehr durfte es schon sein. 2005 verpflanzte man deshalb einen 3,5- l-V6 ins Heck des Knirpses. Eine modifizierte Elektronik, schärfere Nockenwellen, ein durchsatzfreudigerer Ansaugtrakt und eine darauf abgestimmte Auspuffanlage der Nissan-Sportabteilung Nismo kitzeln nun 310 PS (228 kW) aus dem auch in Nissan 350Z und Murano montierten Motor. Und die haben leichtes Spiel mit dem nur 1250 kg schweren Nissan Micra 350SR.
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Das Getriebe verlangt Feingefühl
Bevor der Spaß losgeht, muss man erst einmal durch die Verstrebungen des 44,45 mm starken Gitterrohrkäfigs in den Innenraum gelangen. Das in sich und mit der Karosserie verschweißte Rohrgeflecht macht den Nissan Micra 350SR rund 30 Prozent steifer als den Aufbau des Serien-Micra. Zudem bietet es den nötigen Schutz, falls der 350SR mal neben der Ideallinie landen sollte. Die Schalensitze und die Fünfpunktgurte gleichen Schraubstöcken. Egal, wie schnell die Kurven sind, hier rutscht nichts. Gut für die Konzentration, die im Umgang mit Lenkung und Pedalerie gefordert ist. Mittels einer Fernbedienung aktiviert man die Zündung. Lauthals nimmt der V6 die Arbeit auf.
Viel Gefühl verlangt das per Seilzug betätigte Getriebe. Wie eine Silvesterrakete schießt der Micra über die Rennstrecke. Die Front entlastet beim Katapultstart, die Lenkung wird leicht. Das Heck zuckt von rechts nach links, bis sich das Profil der weichen Toyo-Gummis mit dem Asphalt verzahnt und lange schwarze Striche malt. Nur eine hauchdünne Blechwand mit Plexiglasfenster trennt uns von der infernalisch fauchenden Maschine. Jeder Tritt aufs Gaspedal gleicht einem Tritt ins Kreuz. Durch den großen Ansaugschlund verschwindet der Gumminebel. Wir haben wieder freie Sicht und Zeit zum Staunen: Je nach Übersetzung sprintet der Nissan Micra 350SR in unter fünf Sekunden auf Tempo 100 und schafft einen Topspeed von 240 km/h.

Motorblock aus dem Murano, Hilfsrahmen aus dem Almera
Dass das Triebwerk nicht mehr an den herkömmlichen Platz im Bug des kleinen Micra passt, versteht sich von selbst. Um die Kraftquelle im Heck quer einbauen zu können, nutzte man den Motorblock des Murano und ein ebenfalls quer zur Fahrtrichtung eingebautes Sechsgang-Getriebe aus dem nur in Amerika angebotenen Altima SE-R. Die Zylinderköpfe stammen jedoch vom Sportwagen 350Z. Fixiert wird der V6 von einem aus dem Almera stammenden Hilfsrahmen, der zuvor bereits den Vierzylinder trug. Damit er die zusätzliche Leistung des 310-PS-Sechszylinders verkraftet, wurde er nochmals verstärkt. Auch vorn diente der Almera als Teilespender. Dessen angepasste stabilere Radaufhängung, aufgewertet durch einstellbare Dämpfer, bringt laut RML deutlich mehr Feedback – deshalb kann die Person am Steuer den Nissan Micra 350SR sehr zielsicher ums Eck scheuchen.
Denn einzig zu diesem Zweck wurde die kleine Knallbüchse gebaut. Jedem Richtungsbefehl folgt der Nissan bedingungslos. Die im Gegensatz zur elektromechanischen Serienlenkung verbaute, sehr direkte und nur mit wenig Servounterstützung arbeitende hydraulische Lenkung gibt dem Fahrer jederzeit detaillierte Informationen über den Fahrzustand. Beim 350SR ist nichts in Watte gepackt. Jede Fahrwerksreaktion wird unmittelbar mitgeteilt und kann spielerisch pariert werden. So wollte es RML-Micra-SR-Projektleiter Trevor Keir, ein absoluter Gegner frontgetriebener Sportwagen. Je nach Belieben fegt der Micra nun mit irrsinnigem Tempo durch Kurven oder lässt das schwere Heck quer über die Strecke tanzen.
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Der 350SR blieb ein Einzelstück
Nach kurzer Zeit habe ich mich an den Nissan Micra 350SR gewöhnt. Mein Instruktor, der mir zuvor noch mutig das Potenzial des Wagens und die Tücken der Strecke demonstriert hat, ist kein guter Beifahrer. Der Rauch des Reifengummis, der in nahezu allen schnellen Kehren den Innenraum vernebelt, bewirkt hektische Armbewegungen bei meinem Nebenmann. Auch vor Kurven wünscht er sich, ich möge früher aufs Pedal treten. Doch seine Sorge ist fehl am Platz. Der Micra verzögert so heftig, wie er beschleunigt, spätes Bremsen ist ein Genuss.
Vorn helfen dabei 350 mm und hinten immerhin 300 mm große innenbelüftete, gelochte Bremsscheiben. An beiden Achsen pressen Vier-Kolben-Bremszangen des italienischen Spezialisten Brembo die Beläge gegen die Bremsflächen und zwingen den Power-Mini bei Bedarf unnachgiebig in den Stillstand. Das Team, das den Micra 350 SR entworfen, entwickelt und realisiert hat, habe Benzin im Blut, sagt Stephane Schwartz, Chefdesigner und Kopf der Idee. Damit hat er wohl recht. Hoffentlich haben sie noch Reserven im Tank, um weitere solcher Kurvenkratzer zu verwirklichen. Der 350SR blieb nämlich ein Einzelstück, wurde 2025 allerdings im Rahmen des 23. Micra-Geburtstags als Nissan 350SR Restomod wieder auf die Strecke gelassen.
Technische Daten des Nissan Micra 350SR
POWER CAR 03/2006 | Nissan Micra 350SR |
Zylinder/Ventile pro Zylin. | 6/4 |
Hubraum | 3498 cm³ |
Leistung | 228 kW/310 PS |
Max. Gesamtdrehmoment bei | 363 Nm 4400/min |
Getriebe/Antrieb | 6-Gang-Getriebe/Heck |
L/B/H | 3715/1760/1490 mm |
Leergewicht | 1250 kg |
Bauzeit | 2006 |
Stückzahl | 1 |
Beschleunigung null auf 100 km/h | < 5 s |
Höchstgeschwindigkeit | 240 km/h |
Verbrauch auf 100 km | k.A. |
Grundpreis (Jahr) | k.A. |