Mercedes W 118: Wie ein Stern zum Audi wurde
Mercedes W 118: Die Idee vom kleinen Mercedes
Es ist das Jahr 1958, als Daimler-Benz die Mehrheit an der angeschlagenen Auto Union übernimmt. Während in Stuttgart an Oberklasse-Modellen gefeilt wird, fehlt im eigenen Portfolio ein günstiger Einstiegstyp – ein "Grenztyp nach unten", wie es Entwicklungsvorstand Fritz Nallinger formuliert. Die Modelle mit dem typischen Mercedes-Stern sind groß, schwer und repräsentativ – doch sie lassen Raum nach unten. Ein Raum, den man nun ausfüllen will.
Die technische Antwort entsteht in Untertürkheim: W 118 lautet der Projektname eines kleinen Mercedes mit Frontantrieb , kompakten Abmessungen und eigenständigem Design. Federführend ist ein Mann, der die deutsche Autogeschichte bereits prägte und noch häufiger prägen wird: Ludwig Kraus.
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Der Mercedes 560 SEC (1990) im Fahrbericht (Video):
Von Mercedes zu Audi – mit dem W 119 im Gepäck
Ursprünglich plante man den W 118 als zweitürige Limousine mit 1,5-l-Boxermotor. Rein äußerlich erinnerte er an einen verkleinerten Mercedes SL (W 113 "Pagode"): niedrige Gürtellinie, große Fensterflächen, filigranes Dach, der Stern prangt prominent im Grill. Auch im Innenraum wirkte der Prototyp äußerst serienreif. Doch zu einer offiziellen Premiere kam es nie.
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Basierend auf diesem ersten Prototyp entwickelte man mit dem W 119 eine viertürige Variante, unter deren Haube der sogenannte H-Motor arbeitete – ein 1,7-l-Reihenvierzylinder mit hoher Verdichtung (11,2:1). Die Ingenieur:innen erprobten ihn als Mitteldruckmotor, eine Bauform zwischen Diesel und Benziner, konzipiert ursprünglich für eine militärische Verwendung als sogenannter Vielstoffmotor. Doch das Projekt verlief sich. Stattdessen wurde das technische Konzept nach Ingolstadt exportiert, wo der W 119 als Vorlage für eine Neugestaltung des DKW F 102 Modell stand.
Der W 119 wird zum Geburtshelfer für Audi
Im Jahr 1963 war die Lage bei DKW nämlich kritisch: Der F 102 war neu, doch der darin werkelnde Zweitaktmotor ein bläulich knatterndes Relikt vergangener Tage. Die Kundschaft wandte sich ab. Wieder war es Ludwig Kraus, der nun – inzwischen Technischer Direktor der Auto Union – einschritt. Im Gepäck: die Pläne für den H-Motor und das Konzept des W 119. Unter großem Zeitdruck baute Kraus aus dem F 102 ein neues Fahrzeug – mit Viertakt-Mercedes-Motor und angepasster Karosserie. Audi war geboren.
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Der Mitteldruckmotor: Zwischen zwei Welten
Im August 1965 rollte der neue Viertakter unter dem Namen Audi erstmals auf die Straße – zunächst ohne Modellbezeichnung, aber mit dem Mercedes-Herz. In der Werbung kommunizierte man ganz offen über seine Herkunft. Der 1,7-l-Mitteldruckmotor mit 72 PS (53 kW) beeindruckte durch seine Effizienz, wurde aber wegen seines rauen Laufs bald entschärft. Die Kundschaft zeigte sich begeistert. Alleine im Jahr 1966 wurden 60.000 Autos verkauft. Weitere Varianten folgten auf den nun nach seiner Leistung getauften Audi 72: Modelle wie Audi 60, 80 und Super 90 begründeten die erste Audi-Modellfamilie der Nachkriegszeit. Bis zur Ablösung durch den Audi 80 B1 entstanden zwischen 1968 und 1972 über 215.000 Fahrzeuge.

Eine vernetzte Geschichte – Mercedes, Audi und VW
Heute lässt sich nur mutmaßen, was aus dem Mercedes W 118/W 119 geworden wäre. Vielleicht hätte er als Einstiegsmodell der Marke Mercedes neue Käuferschichten erschlossen – Jahrzehnte bevor der Mercedes 190 (W 201) diesen Weg tatsächlich ging und den Grundstein für die erfolgreiche C-Klasse legte. Fritz Nallinger war seiner Zeit voraus – doch sein Konzept setzte sich erst 1982 durch, als Mercedes sich mit dem "Baby-Benz" endgültig in der Kompaktklasse etablierte.
Ohne den W 118/W 119 hätte es den ersten Audi womöglich nie gegeben. Ohne Audi hätte Volkswagen in den 1970ern keine Frontmotoren gehabt. Und ohne Volkswagen wäre der Audi 100 – entwickelt von Ludwig Kraus gegen den Willen der VW-Spitze – wohl nie entstanden. So ist der W 118 mehr als eine Studie. Er ist der verborgene Ursprung eines Markendreiecks, das die deutsche Autoindustrie bis heute prägt.