Reifenentwicklung im Selbstversuch: Von der Skizze bis zum Test
Profilblöcke in A- und Z-Form: AUTO ZEITUNG gestaltet eigenen Allwetterreifen
Würde ich einen Reifen bauen, wäre das definitiv ein Allwetterreifen. In diesem Segment steckt meiner Meinung nach noch viel Potenzial, sowohl technisch als auch im Vertrieb. Für die meisten dürfte die Performance der Allrounder vollkommen ausreichen – besonders bei winterlichen Bedingungen. Eis und Schnee auf den Straßen sind bei uns doch ohnehin längst die Ausnahme. Dafür dürften die Allwetterreifen meiner Meinung nach bei warmem Wetter näher an die Leistungsfähigkeit von reinen Sommerreifen heranrücken (hier gehts zum Sommerreifen-Test). "Na, dann mach mal", haben sie bei Nokian Tyres gesagt – und dann Prototypen-Reifen nach unseren Vorgaben gebaut. Wie cool ist das denn bitte!?
Klar, dass ein AUTO ZEITUNG-Reifen einen griffigen Namen verdient. Irgendwas mit AZ, wie unser Magazin oft abgekürzt wird. Im Handumdrehen steht "All Zeason" fest – das sagt eigentlich alles. Und natürlich soll man den AZ-Reifen auf Anhieb erkennen. Also sind Ideen für ein ausgefallenes, aber dennoch funktionsfähiges Profil-Design gefragt. Schon schwieriger. Nach einiger Grübelei und ersten, groben Skizzen bieten sich Profilblöcke in A- und Z-Form an. Bloß, wie anordnen? Ein symmetrisches, laufrichtungsgebundenes Design wäre gut, weil der Reifen damit im Aquaplaning und bei der Traktion schon mal günstige Voraussetzungen mitbringt. Dann können wir die übrigen Stellschrauben der Konstruktion dazu verwenden, andere Anforderungen abzudecken. Aus demselben Grund entscheiden sich inzwischen alle namhaften Hersteller für diese Form der Profilgestaltung, wenn auch mit viel langweiligeren Blockmustern – wie ich finde.
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Reifentest: So testet die AUTO ZEITUNG (Video):
Zielkonflikte zwingen stets zu Kompromissen
Doch meine ersten, voller Stolz entworfenen Skizzen für einen Ganzjahresreifen rufen sofort Bedenken in der Entwicklungsabteilung von Nokian Tyres hervor: "Du solltest die Konturen abrunden, sonst wird das Profil viel zu laut", mahnt Dietmar Damm, der das Projekt seitens des finnischen Reifenherstellers koordiniert. Sein Kollege Tomi Korkama aus der Designabteilung pflichtet ihm bei und weist mit geschultem Blick auf die zu kleinen Blockstrukturen hin. "Die würden sich auf der Straße zu sehr verformen und im Handling sowie beim Bremsen Probleme verursachen", gibt er zu bedenken.
Also gut. Nach einigem Hin und Her tüfteln wir ein Profil-Design aus, das sich zwar immer noch erkennbar aus den Buchstaben A und Z zusammensetzt, aber auch Geräuschentwicklung, Blocksteifigkeit und die Drainage-Eigenschaften der Block-Anordnungen berücksichtigt. "Die Lamellen sollten auch in A- und Z-Form geschnitten werden", schlage ich vor. Das gefällt dem Designer, der meinen Eifer und die Liebe zum Detail lobt. Jetzt gilt es noch festzulegen, in welchem Winkel die V-Formation des Profils verlaufen soll. "Ein flacherer Winkel beeinflusst die Seitenführung vorteilhaft, ein steilerer bringt bessere Ergebnisse bei Traktion und Bremsen", fasst Tomi zusammen. Ich wähle einen mittleren Winkel und hoffe, damit den richtigen Kompromiss gefunden zu haben.

In der Reifenentwicklung geht es schließlich immer darum, den bestmöglichen Kompromiss aus verschiedenen Ideen und Notwendigkeiten zu finden, um alle Zielkonflikte bestmöglich aufzulösen. Ein Beispiel: Es ist relativ einfach, einen Reifen zu konstruieren, der auf Schnee eine top Traktion bietet. Doch dann hat er meist massive Schwächen bei Nässe oder im Handling auf griffigem Asphalt. Profile mit viel Grip verschleißen meist schneller, langlebige indes haften schlechter. Ein Slick bietet optimalen Grip auf trockener Straße, wird bei Nässe aber zur Gefahr. Hat das Profil indes zu viel Negativanteil in Form von Rinnen und Rillen, fehlt es in Kurven an Stabilität. Ein Reifen, der im Rollwiderstand glänzt, patzt häufig im Nassgriff – die Liste ließe sich beinahe endlos fortsetzen. Es ist wie mit einer Bettdecke: Kuschelt man sich bis an die Ohren hinein, ziehts an den Zehen, umschlingt man die Füße mit dem wärmenden Stoff, wirds frisch am Hals.
Karkasse & Co.: Auch der Unterbau ist wichtig
Es kommt darauf an, die richtigen Prioritäten zu setzen, um ein Produkt mit den gewünschten Eigenschaften zu realisieren. Und das hängt ja nicht bloß vom Profil ab. Im Büro nebenan warten schon Niko Nummi und Stefano Sgro, zwei Ingenieure aus der Nokian-Entwicklungsabteilung, um mit mir die Konstruktion des Reifens zu erörtern: Karkasse, Gürtellagen, Wulstkern, Lagenumschlag, Cord- und Drahtstärken – es stehen noch viele Entscheidungen aus. Wir arbeiten uns schrittweise durch die Schichten und ich wähle eine 2-1-2-lagige Nylon-Bandage. Also doppelt in den Außenbereichen und einlagig in der Mitte. Stefano erläutert: "Das ergibt eine tendenziell rund-ovale Kontaktfläche und wirkt sich positiv auf Aquaplaning und Trockenhandling aus, während eine durchgehend einlagige Konstruktion einen eher rechteckigen Aufstand ergibt und tendenziell den Rollwiderstand senkt sowie den Komfort steigert."

Da ich einen Allwetterreifen im Sinn habe, der eher mit Dynamik glänzt als mit Effizienz, fällt mir diese Auswahl noch recht leicht. Niko wirft ein, dass der Unterbau aber auch nicht zu steif werden dürfe, sonst werde die Druckverteilung in der Aufstandsfläche bei meinem eher soften Profil-Design zu ungleichmäßig und schade der Haltbarkeit. Darum wähle ich auch für die Karkasse eher leichte und nachgiebige Polyester-Gewebe und suche zudem für die Ummantelung der Stahlgürtellagen leichte gummierte Polyamid-Fäden aus. Das senkt zwar die Masse und sorgt für spontanere Reaktionen, zieht aber Nachteile in der Uniformität nach sich. Da unser Reifen aber mit Lastindex 91 (passend für den VW Golf) nicht allzu sehr belastet wird, sollte das genügen.
Die Stahlgürtellagen sind doppelt ausgeführt, um sich gegenseitig auszugleichen und zu stabilisieren – erprobter Standard im modernen Reifenbau. Das lassen wir am besten so. Eine wesentliche Stellgröße ist der Winkel, in dem die Gürtel-Lagen zur Fahrtrichtung liegen. Mit rund 25° liegt unser "All Zeason" ungefähr in der Mitte der üblichen Bandbreite aus Steifigkeit (engerer Winkel) und Nachgiebigkeit (weiterer Winkel). Zudem suche ich einen eher dünnen Draht aus, damit der Unterbau insgesamt nicht zu steif gerät. Bloß nicht zu sehr auf die eine oder andere Seite festlegen. Sie erinnern sich – da war doch die Sache mit der Bettdecke.
Die Mischung machts – mit Fokus auf Sommer
Schließlich treffe ich Anna Valtanen. Die Entwicklungsmanagerin hilft mir, die Gummimischung zu definieren. Bei Nokian Tyres hätten sie natürlich auch extrem kälteelastische Nordic-Compound-Gummis im Sortiment, die selbst bei unter minus 30° Celsius noch flexibel bleiben. Aber die würden bei sommerlichen Temperaturen ebenso wenig funktionieren wie eine klassische Sommermixtur, die im Winter zu früh "verglast" und bereits bei Temperaturen um den Gefrierpunkt verhärtet.
Die Testsieger unserer Reifentests:
Vor- und Nachteile
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Damit wir überhaupt fertig werden, lässt mir Anna die Wahl zwischen drei Mischungen für Allwetterreifen, die den angestrebten Einsatzzweck sowie das entsprechende Temperaturfenster abdecken – einem eher Sommer-orientierten, einem ausgewogenen und einem stärker auf Wintergrip hin optimierten (hier gehts zum Allwetterreifen-Test). Spontan votiere ich für die Sommer-lastige Lösung, will ich doch einen Reifen, der gerade dort eine gute Figur macht und auf Schnee nur das nötige Maß an Haftung aufbaut, um sicher ans Ziel zu kommen. Na ja, allzu viele Lamellen hat das Profil des "All Zeason" nicht. Ich gerate ins Grübeln, werde unsicher und nehme dann doch lieber die mittlere Mischung. Der Reifen muss schließlich genug Grip generieren, um theoretisch das Schneeflockensymbol zu tragen. Das ist Pflicht.
Somit sind endlich alle wesentlichen Komponenten definiert. Danach geht es in die Fabrik, wo der Allwetterreifen in einer Kleinstserie neben den Serienprodukten der Marke zunächst als Rohling aufgebaut wird. Das markante Profil wird aber nicht wie sonst üblich in der Heizform in den Laufstreifen-Gummi gepresst, sondern in einem separaten Arbeitsgang auf Basis des CAD-Entwurfs von Tomi per Laser eingraviert.
Schluss mit der Theorie, ab zum Test!
Bremsprobleme bei Sommerwetter
Nun brenne ich natürlich darauf, "meinen" Reifen auszuprobieren. Dazu reisen wir nach Spanien, wo Nokian Tyres seit 2021 ein eigenes Testgelände betreibt. Hier auf dem Hakka Ring montieren wir den "All Zeason" auf einen VW Golf GTI und vergleichen ihn mit dem neusten Ganzjahresreifen der Finnen, dem Nokian Tyres Seasonproof 2. Mal ehrlich: Allein der Name unseres Pneus ist viel eingängiger und besser aussehen tut er sowieso! Allerdings zeigen schon die ersten Tests in den Aquaplaningbecken, dass unser Prototyp trotz des bewusst gewählten V-Profils nicht annähernd so viel Wasser ableiten kann wie der Seasonproof 2. Die ausführlichen Testergebnisse sind in der unten stehenden Tabelle zu finden.
Vielleicht hätten wir die Längsrinnen breiter gestalten müssen? Gedanklich arbeite ich schon am Update. Das Geräusch ist zwar präsenter als beim Serienprodukt, aber insgesamt leise und keineswegs nervig. Der Komfort ist in Ordnung, wenngleich ich zugeben muss, dass der neue von Nokian Tyres noch besser ist. Beim Bremstest auf Nässe jedoch rutscht der Golf aus 100 km/h auf unseren Pellen um eine Fahrzeuglänge weiter, was einem Resttempo von fast 30 km/h entspricht. Autsch!
Auch beim Handling auf der künstlich beregneten Strecke offenbart der "All Zeason" ein, sagen wir, ungewöhnliches Fahrverhalten, dass flinke Reaktionen und gesteigertes Fahrkönnen erfordert, um nahe der Haftgrenze auf Kurs zu bleiben. Sie ahnen es: Der Seasonproof 2 fährt nicht nur schneller, sondern benimmt sich dabei auch noch völlig problemlos, selbst am absoluten Limit. Immerhin: Auf trockener Piste schlägt sich unser Allwetterreifen gut und ist im Handling- sowie Slalom-Test sogar ein kleines bisschen flinker. Allerdings patzt er auch hier wieder mit relativ langen Bremswegen. Hand aufs Herz: Seine Charakteristik disqualifiziert ihn für eine sichere Fahrt auf öffentlichen Straßen.

Schneetests in Lappland
Ortswechsel: Schneetests in Lappland. Auch hier betreibt Nokian Tyres ein eigenes Testgelände, die so genannte "White Hell". Man merkt sofort, dass wir uns aus dem "Teilelager" der finnischen Winterprofis bedient haben. Wie der hauseigene Seasonproof 2 schlägt sich auch unser "All Zeason" mehr als achtbar, zumindest beim Bremsen, den Traktionsmessungen und der möglichen Querbeschleunigung. Allerdings offenbart er auf dem Handling-Track ein extrem kapriziöses Verhalten. Nur mit vollem fahrerischen Einsatz, gelingt es, das Grip-Potenzial des Reifens abzurufen.

Für eine duchschnittliche Person am Steuer ohne Rallye-Ambitionen wäre unser Allwetterreifen auf verschneiten Straßen eine echte Herausforderung. Der Übergang ins Rutschen setzt recht früh und plötzlich ein. Das schafft kein Vertrauen und bietet im Ernstfall keine Erleichterung, sondern fordert zusätzlich. Wie es sein soll, demonstriert das Nokian-Serienprofil, das mit berechenbaren Reaktionen und eindeutiger Rückmeldung dafür sorgt, dass man am Steuer selbst auf Eis und Schnee jederzeit die Kontrolle behält. Die Haftung des Serienreifens ist noch dazu immer ein Quäntchen besser, das Fahrverhalten selbst in Extremsituationen gutmütig. Okay, wir geben uns geschlagen.
Messwerte: Unser "All Zeason"-Allwetterreifen gegen den Nokian Tyres Seasonproof 2
AUTO ZEITUNG 10/2025 | All Zeason | Nokian Tyres Seasonproof 2 |
Last-/Geschwindigkeitsindex | 91H | 91V |
EU-Label (Werksangabe) | – / – / – | B / A / B (70 dB(A)) |
Gewicht / Profiltiefe | 8,9 kg / 7,9 mm | 8,2 kg / 8,2 mm |
Verfügbarkeit | unverkäuflich | ab Mai im Handel |
Schnee | ||
Bremsen, 50 – 0 km/h | 28,5 m – 38 Punkte | 28,5 m – 38 Punkte |
Fahrsicherheit | – / 12 – 27 | – / 12 – 27 |
Handling (1,2 km), Zeit | 1:34,1 min – 12 Punkte | 1:31,4 min – 14 Punkte |
Traktion | 2677 N – 35 Punkte | 2745 N – 38 Punkte |
Seitenführung | 3,29 m/s² – 24 Punkte | 3,25 m/s² – 23 Punkte |
Kommentar | Im Winter erzielt der Prototyp solide Werte bei Traktion, Bremsweg und Seitenkraft. Sein unharmonisches Eigenlenkverhalten fordert erhebliches Fahrkönnen | Traditionell stark auf Eis und Schnee, liefert auch der neue Ganzjahresreifen von Nokian Tyres in den Winter-Tests souverän ab. Leicht beherrschbar und spurtreu |
Teilwertung Schnee | 121 Punkte | 140 Punkte |
Nass | ||
Aquaplaning, längs | 80,0 km/h – 13 Punkte | 90,7 km/h – 22 Punkte |
Aquaplaning, quer | – / 3 Punkte | – / 9 Punkte |
Bremsen, 100 – 0 km/h | 48,7 m – 28 Punkte | 44,8 m – 38 Punkte |
Fahrsicherheit | – / 26 Punkte | – / 39 Punkte |
Handling (1,4 km), Zeit | 1:16,1 min – 17 Punkte | 1:14,8 min – 18 Punkte |
Kreisbahn (Ø 32,5 m), Zeit | 11,4 s – 9 Punkte | 11,1 s – 9 Punkte |
Kommentar | Schwächelt bei Aquaplaning, bremst nur mäßig, ist zu instabil und verspielt das Vertrauen des Piloten durch empfindliche Reaktionen auf Lastwechsel | Sehr guter Aquaplaning-Schutz und hohes Gripniveau. Zeigt moderate Lastwechselreaktionen und stützt sich sicher ab. Leichtes Untersteuern, klares Feedback |
Teilwertung Nass | 96 Punkte | 135 Punkte |
Trocken | ||
Bremsen, 100 – 0 km/h | 40,0 m – 29 Punkte | 37,8 m – 36 Punkte |
Fahrsicherheit | – / 17 Punkte | – / 26 Punkte |
Handling (3,4 km), Zeit | 1:51,5 min – 17 Punkte | 1:53,0 min – 16 Punkte |
Komfort | – / 7 Punkte | – / 9 Punkte |
Rollwiderstand | 8,7 kg/t – 19 Punkte | 8,2 kg/t – 23 Punkte |
Slalom | 61,2 km/h – 13 Punkte | 59,7 km/h – 12 Punkte |
Vorbeirollgeräusch 80 km/h | 69 dB(A) – 9 Punkte | 69 dB(A) – 9 Punkte |
Kommentar | Trotz des extravaganten Profil-Designs erfreulich leise, aber im Innenraum präsenter. Liefert in Handling und Slalom gute Ergebnisse, fordert fahrerischen Einsatz | Zeigt nur eine mäßig sportliche Charakteristik, punktet aber dafür mit kürzeren Bremswegen und gutmütigeren Reaktionen in flotten Kurven |
Teilwertung Trocken | 111 Punkte | 131 Punkte |
Gesamtwertung | ||
Punktesumme/Platzierung | 328 Punkte / 1. Platz | 406 Punkte / 2. Platz |
Kommentar | Der von uns designte Prototyp sieht klasse aus und fährt im Alltag unauffällig. Doch wenn volle Leistung gefordert ist, offenbart er eklatante Schwächen. Da müssen wir wohl nochmal ran! | Hier waren Profis am Werk: Das Design des Nokian Tyres Seasonproof 2 wirkt auch in der Neuauflage eher zurückhaltend, überzeugt aber dafür mit sicherem Griff unter allen Bedingungen – darauf kommt’s an. |
Es ist ernüchternd: Anders als den rundum gelungenen Nokian Tyres Seasonproof 2 kann man unseren "All Zeason" nicht empfehlen. Reifen-Bau ist eben doch ein Job für Profis – und erfordert einen langwierigen Prozess, um alle Komponenten perfekt aufeinander abzustimmen. Wir müssten unseren Prototyp jetzt penibel analysieren, andere Mischungen versuchen, das Profildesign modifizieren und ihn immer wieder testen, bevor irgendwann ein alltagstaugliches Produkt dabei herauskommt. Den Job überlassen wir besser den Profis der Entwicklungsabteilungen – und ich bleibe beim Testen.